Satish Kumar, 1936 in Rajasthan in Indien geboren, startete Anfang der 1960er-Jahre einen 12 000 Kilometer langen Friedensmarsch von Indien nach Washington. 1973 liess er sich in England nieder und gründete 1991 das «Schumacher College». Satish Kumar engagiert sich in zahlreichen spirituellen, pädagogischen und ökologischen Projekten.
Als junger Mann absolvierte Satish Kumar einen 12 000 Kilometer langen Friedensmarsch. Heute gehört der 81-Jährige zu den wichtigsten Persönlichkeiten, die sich weltweit für einen grossen Wandel einsetzen.
Satish Kumar: Bis heute bedeutete die vom Westen gepredigte Vision von Entwicklung nichts anderes als unbegrenztes Wirtschaftswachstum auf einem begrenzten Planeten. Wir entziehen der Erde Energie und Rohstoffe für unsere Produktion und unseren Konsum und füllen sie mit unseren Abfällen auf. Ein solches Wirtschaftsmodell hat mit Entwicklung nichts zu tun. Wenn die Länder des Südens uns auf diesem Weg folgen, wird das globale Chaos noch mehr anwachsen. Wir werden die gigantischen Probleme – Klimaveränderung, Armut, soziale Ungleichheit und Umweltzerstörung – so niemals lösen können. Die Herausforderung besteht im Wandel von einer linearen zu einer zirkularen Wirtschaft. In der Natur gibt es weder Abfälle noch Verschmutzung: Alles wird rezykliert und absorbiert. Diese Transformation ist das wichtigste Gebot unserer Zeit. Es impliziert unter anderem, auf «schwarze» Energie zugunsten von «weisser» zu verzichten. «Schwarze» Energie sind fossile Brennstoffe, «weisse» Energie besteht aus Sonne, Wind, Wasser. Sie ist unendlich.
Welche Inspirationsquelle kann der Süden sein für den Wandel?
Prosperität und Wohlbefinden sind für alle möglich, im Norden wie im Süden. Die Voraussetzung dafür ist, dass wir von einem Wachstum des Habens hin zu einem Wachstum des Seins gelangen. Ich persönlich bin stark von Mahatma Gandhi geprägt. Er förderte eine Wirtschaft, die ihre Wurzeln in der bäuerlichen Landwirtschaft und im Handwerk hatte. Es ist für mich ein viel ökologischeres und nachhaltigeres Entwicklungsmodell, denn es hat zum Ziel, die Reinheit der Erde, des Wassers und der Luft zu bewahren. Wissenschaft, Technologie, Industrie, die Banken – sie sind nur das Sahnehäubchen auf dem Kuchen.
Die Menschheit kann nicht gesund und widerstandsfähig sein, wenn sie sich nur auf das Häubchen konzentriert und den Kuchen vergisst – also die Unversehrtheit der Natur.
Diese Prioritätenverschiebung steht im Zentrum der «neuen Erzählung», die Sie sich wünschen.
Die «alte Erzählung» ist diejenige der Trennung, der Dominanz und der Kontrolle. Sie liess uns glauben, dass die Natur ausserhalb von uns ist, dass wir über den anderen Lebewesen stehen. Das Resultat davon sehen wir heute. Die «neue Erzählung» ist die der Einheit. Wir sind eins mit der Natur, in einer tiefen gegenseitigen Abhängigkeit. Was wir ihr antun, tun wir uns selbst an. Die Natur ist nicht einfach eine Ressource, sie ist die Quelle unseres Lebens.
Dann geht es also auch um einen inneren Wandel. Ja, Wandel ist nicht nur äusserlich und materiell. Die spirituelle Ebene spielt dabei eine Schlüsselrolle. Die aktuelle Geschichte ist die des Materialismus. Sie beruht auf einer völlig falschen Vision der Welt, denn das Leben und die Natur sind Materie und Geist zugleich. Die Transition ruft uns auf, zu einer ganzheitlichen Sicht der Welt überzugehen, bei der das Physische und das Metaphysische, das Engagement und die Spiritualität zusammengehören wie zwei Seiten einer Medaille.